Unser-Usinger-Land Wolfgang Ettig
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Mit spitzer Feder

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„Gemütlichkeit“ kennt keine Grenzen

Nun ist es wieder soweit, allerorts brechen mit voller Wucht „gemütliche Zeiten“ über uns herein!
Gedanken über einen überstrapazierten Begriff und eine bisweilen ungemütliche Zeit.

Von Wolfgang Ettig

   „Gemütlichkeit“ ist das beliebteste deutsche Wort. Zu diesem Ergebnis kommt eine Abstimmung des Sprachmagazins „Deutsch perfekt“, an der sich Deutschlernende aus 46 Ländern beteiligten. Doch was ist „Gemütlichkeit“, was macht Gemütlichkeit aus? Ein „Prosit der Gemütlichkeit“; laute Biergärten; dichtgedrängte Fachwerkhäuser, die alten Gassen die Luft zum Atmen nehmen; rustikales Holzwohnmobiliar oder gequälte folkloristische Inszenierungen, insbesondere dann, wenn landauf- und landab die Oktoberfeste über uns hereinbrechen, dann kracht es förmlich vor Gemütlichkeit. Sie alle bedienen in diesem Zusammenhang eher stereotype Klischees. Da gibt es den Landgasthof „Zur Gemütlichkeit“, da werben Tourismusverbände und laden Besucher – insbesondere zur Herbst- und Winterzeit – in gemütliche Landesteile und Städte ein. Hier drängt sich unmittelbar die Frage auf, sind derartige Besuche im Frühling oder zur Sommerzeit ungemütlich?  

   Abgeleitet vom Substantiv „Gemüt“, ist der Begriff primär ein subjektiv empfundener Zustand des Wohlbefindens, zugegeben, mitunter ausgelöst durch bestimmte, ebenfalls subjektiv gegenständliche Verstärker und/oder (bewusst) arrangierte Situationen.

   Gemütlichkeit charakterisiert also eine dem Menschen freundliche, warme Atmosphäre und Umgebung, in der man sich wohlfühlt. Sie ist gekennzeichnet von Ausgeglichenheit, Geborgenheit, Konfliktfreiheit und Sorglosigkeit. Sie bringt, so heißt es, Ruhe in die Hektik. Gemütlichkeit verträgt keine Aufregung, keinen Streit, keine sich aufdrängenden Sorgen. Der Philosoph Friedrich Schlegel deutet zu Beginn des 19. Jahrhunderts das Gemüt als „Sitz der inneren Empfindung“. Der Begriff avancierte in jener Zeit (in den Tagen der Biedermeier) zum regelrechten Modewort. Auch das Substantiv „Gemütlichkeit“ erfuhr damals eine besondere Ausprägung.

   Seither versteht man unter Gemütlichkeit einen emotionalen Zustand des Wohlbefindens und der Behaglichkeit, der uns an vorweihnachtlichen Tagen förmlich an jeder Ecke und stets unaufgefordert überrollt. Uns gleichsam übergestülpt wird. Wenn IKEA in seiner Werbung suggeriert „… dass kleine Veränderungen die Stimmung und Geist heben und das Zuhause zu einem gemütlichen, geselligen und magischen Ort machen“, dann wird es wohl so sein. Was zu der Frage verleitet: „Macht ein Kissen mehr mein Sofa gemütlicher?“ Es lässt sich seit langem nicht mehr bestreiten, manipulative Werbestrategen haben sich dem Begriff bemächtigt, um ihn uns in Form von disponierten Situationen und präparierten Örtlichkeiten flächendeckend zu präsentieren. Aber sind diese aktuell auf uns zurollenden bunten Lichter; oft zum Himmel schreienden Dekorationen; ewig flackernden Kerzen; auf Schritt und Tritt widerhallenden Klänge aus Blechgebläse (meist „Stille Nacht…“ oder – ob mit oder ohne Schnee – „White Christmas“); wundersame Düfte; Angebote, die nicht einmal im entferntesten etwas mit Christi Geburt zu tun haben. Freundschafts- oder verwandtschaftliche Glühwein-Treffen, bei denen die nasse Kälte nur darauf wartet, die nächste Blasenentzündung anzukündigen. Nervende nikolaus-wackelnde und rentier-hüpfende WhatsApp‘s und fortwährende Wünsche (ob man sie hören will oder nicht): „…frohe Weihnacht, und macht es Euch in der freien Zeit mal so richtig gemütlich“.
Ist das alles tatsächlich gemütlich?

   Wir erinnern uns: Gemütlichkeit ist etwas persönliches, etwas, was jeder Einzelne für sich empfindet. Ganz bei sich sein. Ja, Kerzenschein, eine Tasse Tee oder ein knisterndes, wohlige Wärme ausstrahlendes Kaminfeuer kann diese ureigene positive Gemütsstimmung unterstreichen. Aber weder die flackernde Kerze, der heiße Tee oder die Glut im Kamin sind per se gemütlich. Selbstverständlich existiert eine Unterscheidung zwischen Gemütlichkeit als innerem Gemütszustand und als eine an Äußerlichkeiten geknüpfte Alltagserscheinung. Eingefleischte Weihnachtsmarktbesucher mögen mir verzeihen. Eine heitere, gemeinsame Glühweinrunde unter Freunden auf einem Weihnachtsmarkt mag unmittelbar oder im Nachhinein als „gemütlich“ empfunden werden. Doch ist/war sie das auch tatsächlich? Reflektiert der Einzelne in solchen Momenten gemütsbewegt nach innen? Oder lässt er sich lediglich von der vermeintlich ausgelassenen Situation davontragen?

   Dass Gemütlichkeit als spezifisch deutsch angesehen wird scheint uns heute selbstverständlich. (Endlich mal keine Anglizismen, außer vielleicht X-mas für Weihnachten; müsste der Weihnachtsmann dann nicht eigentlich auch X-man heißen? Egal, ich schweife ab!) Gemütlich und Gemütlichkeit gelten sogar als unübersetzbare Wörter. Und, wer hätte das gedacht, unter den in der amerikanischen Sprache gebräuchlichen deutschen Wörter wie  „Kindergarten“, „Wanderlust“, „Leitmotiv“, „Zeitgeist“ oder „Wunderkind“, rangiert „Gemütlichkeit“ weit vorn. Fremdsprachen-Wörterbücher übersetzen lediglich Aspekte eines Begriffes oder seinen Bedeutungsgehalt, doch was Gemütlichkeit genau ist, vermag kein anderes Wort zu sagen. Verwandte Begriffe wie beispielsweise „coziness“ im Englischen, „le confort“ im Französischen, „la comodidad“ im Spanischen, „hygge“ im Dänischen oder „gemoedelijkheid“ im Niederländischen beschreiben weitgehend nur Ausschnitte der deutschen Wortbedeutung. Unsere ur-deutsche Gemütlichkeit scheint oft kopiert, doch nie erreicht.  

   Wird Gemütlichkeit allerdings bewusst kommerzialisiert, inszeniert oder gar verordnet, wird sie rasch ungemütlich. Bei der sich regelmäßig einstellenden vorweihnachtlichen Hektik, in der man die letzten Geschenke besorgt, die eigentlich Notkäufe sind. Gestresst durch den Supermarkt hastet, um der gesamten Sippe am Weihnachtsabend ein gemütliches, romantisches (…oh, je auch so ein überstrapaziertes Wort) Essen zu kredenzen. Am Ende hat doch wieder irgendjemand was zu nörgeln.  

   Der aufmerksame Zeitungsleser wird bemerken, dass es in der Weihnachtszeit in Wort und Bild zunehmend „gemütlicher“ wird. Der schreibenden Zunft geht das Adjektiv in diesen Tagen gedeihlich leichter von der Hand. Plötzlich ist alles irgendwie und irgendwo (super) gemütlich. NEIN, ist es nicht, da kann mir mein Nachbar zehnmal mit einer rotweißen Zipfelmütze auf dem Kopf Gemütlichkeit vorgaukeln!

   Bereits Goethe ging vor gut 200 Jahren dieses Gedöns auf die Nerven als er vermerkte: „Die Deutschen sollten in einem Zeitraum von dreißig Jahren das Wort Gemüt nicht aussprechen, dann würde nach und nach Gemüt sich wieder erzeugen…“.

In diesem Sinne, eine behagliche Vor- und Weihnachtszeit und besinnliche Festtage.

Bevor ich es vergesse: Auch der Autor besucht hin und wieder gerne einen kleinen regionalen Weihnachtsmarkt. Wenn das Ambiente stimmt, es vielleicht zur Jahreszeit passend noch schneit, hat das Ganze eine heimelige, harmonische Atmosphäre.    [we. Dez. 2024]

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